Lieber Leserinnen und Leser!
„Es gibt nichts beständigeres als den ständigen Wandel“, sagt ein Sprichwort. Alles wandelt sich ständig, ist im Fluss. Das gilt für das eigene Leben, für die Natur, die Gesellschaft, auch für die Kirche. Wir werden älter, wandeln uns und müssen von Jahr zu Jahr Neues lernen.
Die Veränderungen in Gesellschaft und Kirche machen uns Probleme. Viele kommen nicht mehr mit und wünschen sich Ruhe und Beständigkeit, Festigkeit und Dauerhaftigkeit im Leben.
Aber Veränderung und Wandel gehören zum Leben.
Ein Blick in die Natur macht es deutlich. In früheren vorwissenschaftlichen Zeiten dachte man, dass ein Schöpfgott die Welt aus dem Nichts erschaffen hat wie eine Folie, die er dann wie ein Theaterregisseur ausgestattet hat mit Himmel und Erde, Gestirne, Berge und Meere, Pflanzen und Tieren. Und schließlich habe er den Menschen als Mann und Frau aus Erde geformt und in seine Schöpfung hineingestellt.
Er habe die Erde sich selbst überlassen, nur dem Kreislauf der Natur unterworfen.
So war die naive Vorstellung vieler Religionen für Jahrtausende. In dieser Weise sprechen auch, etwas vereinfacht gesagt, die ersten Seiten der Bibel vom Anfang der Welt.
Dann kam die Naturwissenschaft und sprach von einem Urknall, am Anfang vor aller Zeit. Aus einem Uratom hätte sich dann alles in der Evolution entwickelt, seit Millionen von Jahren und wir seien mitten drin in diesem Entwicklungsprozess, der ja nicht abgeschlossen ist, sondern fortdauert ebenfalls für Millionen von Jahren, bis dann die Erde verglüht, da die Sonne sich soweit ausgedehnt hat.
Wer hat nun recht die Bibel oder die Wissenschaft?
Zunächst muss man sagen,
dass beide die eine Wirklichkeit auf ihre Weise betrachten und deuten.
Die Bibel mehr in einer dichterischen, poetischen, künstlerische Betrachtungsweise, die Wissenschaft mit den Mitteln der Physik, der Chemie, der Astro- und Quantenphysik. Wer aber hat nun recht? Es kommt nun darauf an, nicht „entweder – oder“ zu sagen, sondern „sowohl als auch“.
Damit sind natürlich nicht alle Problem gelöst. Aber eine solche erweiterte Sichtweise – der entsprechende wissenschaftliche Ausdruck ist „Ambiguität“ – macht es einfacher mit dem Problem der verschiedenen Erkenntnisweisen umzugehen.
Alles ist im Wandel. Und wir sind mitten drin in diesem Strom der Zeit. Unser Wunsch nach einem festen Halt, nach Beständigkeit und Dauerhaftigkeit darf fortbestehen, aber muss sich letztlich auf den richten, der das alles so gewollt hat.
Er muss sich richten auf den Urgrund allen Seins, auf Gott, der sich selbst auch in diesen Wirbel des Lebens hinein begeben hat. Sich auf ihn zu verlassen, ja sich in ihn hineinfallen zulassen wie in einen tiefen weiten Brunnen – das ist letztlich das, was uns der reine, nackte Glaube nahelegt.
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat in seinem Gedicht „Herbst“, das jetzt ja in diese Jahreszeit gut passt, den Gedanken vom endgültigen Wandel des Lebens in diese Worte gefasst:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallenunendlich sanft in seinen Händen hält.
Lassen wir uns einfach fallen – jeden Abend – an der Grenze des Wachseins in seine Hände!
Reiner Fries, Pfr. i. R.